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2.2. Die Offenbarung im Alltagschaos

Aktualisiert: 22. Juni


Aber nicht nur die Welt da draußen, auch ihren Kindern musste Susan es beibringen. Ach, wie wunderbar, wenn man zwischen all den aufgeschobenen Verpflichtungen noch eine bittere Wahrheit offenbaren darf! Sie tat es nicht gleich – warum die grausige Offenbarung sofort über die Bühne bringen, wenn man sich die Tragödie auch ein wenig aufheben kann? Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie es tun musste. Schließlich war sie es ihnen schuldig. Ihre Kinder, diese kleinen Detektive des häuslichen Chaos, ahnten schon eine Weile, dass etwas nicht stimmte. Wie könnten sie auch nicht? Susan, die vorher nie so chaotisch gewesen war – zumindest nicht mehr als auf ihre ganz spezielle, charmante Art –, hatte sich in einen Wirbelwind des Durcheinanders verwandelt.

Wie sollte sie das nur in Worte fassen? „Kinder, euer bisher so stabiler Anker in dieser turbulenten See des Lebens, hat ein wenig den Halt verloren. Aber keine Sorge, ich finde den Weg schon wieder zurück – auch wenn er gerade ein wenig durch den Nebel des Wahnsinns führt.“

Ja, sie wusste, dass sie es irgendwann erklären musste. Denn so offen, wie sie über alle anderen Themen sprachen – sei es nun der mysteriöse verschwundene Lieblingssocken oder die philosophische Frage nach dem Sinn von Brokkoli – war sie es ihnen schuldig, auch dieses dunkle Kapitel nicht totzuschweigen. Vielleicht würde sie es in einem dramatischen Monolog am Küchentisch verpacken oder in einem dieser köstlich ironischen Momente beim gemeinsamen Abendessen. „Ach übrigens, Kinder, wisst ihr, warum Mamas Tanzschritte plötzlich so unberechenbar sind? Nein, nicht weil ich heimlich neue Tanzstile erprobe, sondern weil da ein lästiger Untermieter in meinen Nerven haust, den ich euch mal Helmut nennen möchte.“

Denn irgendwie wusste sie, dass die Zeit der Tarnung vorbei war. Ihre Kinder waren klug genug, die feinen Risse in der Fassade zu bemerken – und sie waren es wert, dass man ihnen die Wahrheit zutraute. Denn inmitten dieses Chaos, organisiert auf ihre ganz eigene, exzentrische Weise, würde sich vielleicht ein neues Gleichgewicht finden. Ein Leben, in dem sie trotz allem gemeinsam tanzen, lachen und vielleicht sogar über den Klotz namens Helmut scherzen konnten.


Die Ärztin sah Susan über den Rand ihrer Brille hinweg an und fragte mit einer Mischung aus Geduld und Erwartung: „Haben Sie es denn endlich schon gesagt?“ Ach, als wäre das eine so einfache Aufgabe! So leicht wie zu verkünden, dass es zum Abendessen Spaghetti gibt. Nein, wie soll man denn sowas sagen? Susan war ja nicht auf den Mund gefallen, aber da...


Da saß sie nun, eine Mutter, die noch lange nicht an die Rente dachte, mit Kindern im Teenageralter, die gerade ihre eigenen kleinen Dramen erfanden, und einem Mann, der sich sein Leben wohl etwas weniger turbulent vorgestellt hatte, als nun auch noch mit einer offiziell bestätigten „Verrückten“ durchs Leben zu gehen. Eine schöne Vorstellung, nicht wahr? Als wäre der Alltag nicht schon genug Theater.


Und so kam es, dass Susan es beim Abendessen endlich herausplatzte. Zwischen dem Klirren von Besteck, das auf den Tellern tanzte, und dem monotonen Kauen, warf sie es in den Raum, kurz und bündig, wie eine knallige Schlagzeile in der Boulevardpresse: „Kinder, ich hab Parkinson.“ Tja, das war’s dann auch schon. Keine dramatischen Erklärungen, keine theatralischen Gesten, einfach nur die nackte Wahrheit, serviert zwischen Erbsen und Kartoffelpüree.


Ihre Tochter, die kleine Einstein-Nachfahrin mit dem wissenden Blick, hob nur eine Augenbraue. Kein großes Drama, keine Tränen. Vielleicht überlegte sie gerade, wie sie das in ihren nächsten Aufsatz über familiäre Krisen einbauen könnte. Und ihr Sohn? Nun ja, er nickte einfach, als hätte Susan verkündet, dass der Hund Flöhe hat. Die Tragweite dieser Nachricht? Völliges Neuland. Wahrscheinlich dachte er, Parkinson sei eine neue Serie auf Netflix, die er noch nicht auf dem Schirm hatte.


Ja, das war’s dann also. Keine tränenreichen Umarmungen, keine tiefgründigen Gespräche über die Zerbrechlichkeit des Lebens. Nur ein kurzer Moment der Stille, bevor wieder das gewohnte Klappern von Geschirr und das Knirschen der Essensreste losging. Eine perfekte Inszenierung, nicht wahr? So dramatisch, dass selbst Shakespeare vor Neid erblassen würde.


Die nächsten Tage verliefen in einer merkwürdigen Mischung aus Normalität und unterschwelliger Anspannung. Es war, als ob die Tatsache, dass Helmut, der neue Mitbewohner, nun offiziell eingezogen war, eine unausgesprochene Vereinbarung darstellte. Jeder wusste Bescheid, aber niemand sprach es aus. Es war, als ob alle darauf warteten, dass jemand den ersten Schritt machte, um das neue Gleichgewicht zu finden, das sie so dringend brauchten.


Susans Tochter begann, sie mit einem prüfenden Blick zu beobachten, jedes Mal, wenn sie etwas fallen ließ oder ein Glas umstieß. Sie versuchte, es unauffällig zu machen, aber ihre Augen verrieten sie. Es war, als ob sie auf den Moment wartete, in dem Susan die Kontrolle komplett verlieren würde. Und ihr Sohn? Er tat weiterhin so, als ob alles in Ordnung wäre. Für ihn war Susan immer noch seine Mutter, und das schien ihm zu genügen. Die Tragweite des Ganzen? Fehlanzeige. Vielleicht war das ja seine Methode, mit der ganzen Situation klarzukommen.


Und Susan? Sie versuchte, ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten, sich nicht von Helmut, dem stillen Mitbewohner, unterkriegen zu lassen. Aber es war schwierig. Jeder Tag war ein neuer Kampf, eine neue Herausforderung, die sie immer wieder an ihre Grenzen brachte. Es war, als ob sie ständig gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfen musste, der immer einen Schritt voraus war.


Doch tief in ihr spürte sie eine seltsame Erleichterung. Endlich hatte das Kind einen Namen – auch wenn dieser zunächst Parkinson und noch nicht Helmut hieß. Ihr Zustand hatte endlich eine Bezeichnung, und das war irgendwie befreiend. Ein bisschen so, als hätte man den nervigen Geräuschen, die nachts das Haus heimsuchen, endlich eine Erklärung gegeben: Es ist nur die Heizung, nicht das Gespenst aus den Kindergeschichten.






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